Digitalität ist inzwischen allgegenwärtig. Auch die Bildungslandschaft, genauer gesagt die Schulen und Hochschulen, sind mit ihr konfrontiert. Die Veränderungen sind einerseits massiv, andererseits aber auch ziemlich diffus. Das zeigt sich besonders an der Art und Weise, wie die Betroffenen damit umgehen. In der Wirtschaft spricht man von digitaler Transformation. Die digitale Ausrichtung wird überall gefordert. Doch die Vorgaben von Kultus und Politik sind dürftig. So macht es derzeit den Anschein, dass den Bildungseinrichtungen nur der Blick nach links und rechts bleibt und dann „irgendetwas Digitales“ eingeführt wird. Man findet dann neue Computerräume, die Erweiterung der Website um eine Lernplattform oder eine Dropbox für die Hausaufgaben. Gelegentlich auch ein klassenübergreifendes Projekt zum Thema Digitalisierung.
Schule – häufig ein Ort der Digital-Archäologie
Nicht nur die Schulen, sondern die gesamte Bildungslandschaft steht heute vor einer großen Herausforderung. Sie schwebt in einem Spannungsraum zwischen der Berufs- und Arbeitswelt (oder Wirtschaft) auf der einen Seite und der komplexen, schwerfälligen und digital rückständigen Bildungsorganisation der Länder auf der anderen Seite. Die Wirtschaft fegt ihren komplexen und diffusen Bedarf an Kompetenzen, Kreativität, Skills, Entwicklungsbereitschaft und digitaler Bildung beim Arbeitskräftenachwuchs überwiegend unter den Begriff Fachkräftemangel. Die Bildungsorganisation will zwar Weiterentwicklung, scheitert aber an ihren eigenen klassischen Strukturen, die eine bewegliche und zielorientierte Auseinandersetzung mit der Thematik verhindert – die Ergebnisse und einzelnen Initiativen zeigen dies überwiegend recht deutlich. So bleibt den Schulen oftmals nur, mittels eigener Initiativversuche Wege aufzuzeigen. Doch auch diese scheitern häufig am Mangel an Lehrkräften, der Finanzierung und der Perspektive.

Eine wesentliche Erkenntnis aus der Debatte um den Umgang mit der Digitalisierung ist deren fachliche Ausrichtung. Die sogenannten MINT-Fächer stellen eine Kategorisierung dar, mit der sich Digitalisierung im Bildungskontext inhaltlich erfassen lässt. So reagieren viele Schulen und Hochschulen mit einem aufwachsenden Angebot in den Disziplinen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik – kurz MINT. Der von der Wirtschaft postulierte Fachkräftemangel bestärkt die Bildungsinstitutionen in ihrem Handeln. Dennoch ist man nicht so recht glücklich mit der Entwicklung. Der Glaube daran, dass eine Besserung eintritt, ist schwach. Mangelnde Innovationskraft, Ideenarmut und Führungsschwäche unseres Nachwuchses werden häufig genannt, um zu begründen, warum wir im digitalen Zeitalter international abgehängt werden. Die Ironie wird bereits in dieser Beschreibung deutlich: die Ausbildung von mehr Fachkräften per se kann die beschriebenen Missstände gar nicht beheben. Wir erkennen die Symptomatik der Ideenlosigkeit.
Wir versuchen einmal eine andere Betrachtung des Sachverhalts, um eine Idee zu entwickeln. Werfen wir noch mal einen Blick auf das Thema MINT. Das "I" steht dabei für Informatik. Damit möchte man die Informatik als eigene Instanz neben den Disziplinen Mathematik, Naturwissenschaften und Technik ansiedeln. Zusätzlich erweitert man die Debatte um den Begriff Strukturwissenschaften. Carl Friedrich von Weizsäcker umschrieb diese seinerzeit mit den Begriffen Kybernetik, Informations- und Systemtheorie. Da die Informatik von all den bisher genannten Disziplinen lebt und viel mehr übergreifenden oder integrierenden Charakter hat, ist eine pragmatische Orientierung in dieser Debatte sehr schwierig. Die englischsprachige Debatte liefert eine bessere Vorlage für unseren Gedankengang. Anstelle von MINT kommt hier der Begriff STEM zum Einsatz. Dieser steht für Science, der Technology, Engineering und Mathematics. Informatik kommt darin nicht vor. Da diese jedoch, wie bereits dargestellt, als integrierende Disziplin verstanden werden kann, als tragende Disziplin in der Digitalisierung stark deren Struktur vorgibt, lässt sich mit ihr vieles weiterdenken.
Informatisches Studium Generale stiftet Struktur
Mit der Informatik als strukturwissenschaftliche Disziplin lässt sich ein Konzept der informationstechnischen Grundbildung oder Grunderziehung schaffen. Ein wesentliches Ziel dieser Grundbildung ist die Vermittlung struktureller Denkfertigkeit und damit die Öffnung für einen freien und integrativen Diskurs zwischen und mit den dargestellten Fachdisziplinen. Die Folgerichtigkeit dieser Gedanken lässt sich anhand einer Betrachtung von Innovation verdeutlichen. In diesem Zusammenhang spreche ich von Innovationen, die eine direkte Auswirkung im alltäglichen sozialen Umfeld haben. Allgemein betrachtet findet Innovation im digitalen Kontext sehr selten im Rahmen eines Durchbruches in einer einzelnen Fachdisziplin statt. Viel häufiger geschieht sie dann, wenn unterschiedliche Bereiche geschickt kombiniert werden. Das führt dann zu neuen Anwendungen, die aufgrund ihrer Nützlichkeit und schnellen Verbreitung rasch einen spürbaren Effekt in unserem Lebensalltag entfalten. Airbnb beispielsweise kombinierte das Konzept einer digitalen Buchungsplattform mit dem Bedarf von Reisenden an Unterkunft und der großen Verfügbarkeit privater ungenutzter Räumlichkeiten, woraus eine neuer Gewerbebereich entstanden ist. Entscheidend dabei war jedoch nicht die technologische Entwicklung, sondern das Verständnis der Verknüpfungen von Technologie, menschlicher Lebenswelt und den Märkten. Oder kurz: strukturelles Denken und das damit verbundene Verständnis.

Eine große Chance für unser Bildungssystem besteht darin, den Erziehungsauftrag inhaltlich neu zu denken. Anstatt unsere Abhängigkeit vom Angebot mobiler Endgeräte zu monieren und diese an den Pranger zu stellen, sind Gegenentwürfe zur Abholung und optimierten Nutzung der dabei erworbenen Kompetenzen weitaus sinnvoller. Die Technologie ist nämlich ein Fakt, den wir als solchen nur akzeptieren können. Während die Gedanken einer digitalen Aufklärung schon sehr weit tragen und uns aus einer passiven und reaktiven Position in eine aktive und bestimmende Haltung führen können, geht das Konzept einer informatisch-strukturellen Grundbildung noch einige Schritte weiter. Das damit geförderte strukturelle Denken und Verstehen ermöglicht nämlich einen kreativen Umgang mit sämtlichen digitalen Entwicklungstendenzen. Die Kombination mit der Förderung weiterer praktischer Skills in den Bereichen Kommunikation, Leadership, Design Thinking und Projektmanagement kann schließlich zur Innovation befähigen oder diese stark begünstigen. Dieses Konzept lässt sich auf jeder Bildungsstufe adäquat ausgestalten. Die digitalen Wissenschaften stellen einen Weg im universitären Kontext dar, der diesen Gedanken Rechnung trägt. Dazu hier ein Artikel, der die Frage "Was sind Digitale Wissenschaften?" näher beleuchtet.
Mut zur Avantgarde….
Die dargestellten Gedanken zur Vermittlung struktureller Aspekte unserer digitalen Lebenswelt stellen eine erste, relativ oberflächliche Betrachtung dar. Insgesamt kann es jedoch nicht nur um eine inhaltliche Ausrichtung gehen. Das Konzept beinhaltet auch Implikationen für die methodischen und didaktischen Dimensionen der digitalisierten Bildung. Wir müssen bereit sein, unsere wesentlichen Annahmen zur Bildung kritisch zu hinterfragen. Unser Interesse sollte es sein, den momentan noch vorherrschenden Primat der Technologie durch deren Dienstbarkeit zu ersetzen. Dienstbarkeit und Unterstützung bei der Umsetzung unserer sozialen und humanistisch relevanten Ziele, um als Gesellschaft eine gedeihliche Weiterentwicklung im digitalen Zeitalter zu erleben. Denn bei genauem hinsehen hat man bereits erkannt, dass die erfolgreichsten Unternehmen die Arbeitsmodi Kooperation und Kollaboration als die zielführenden erkannt haben. Im gesamtgesellschaftlichen Kontext ist dies ebenfalls der Schlüssel zum Erfolg, was uns ermuntern sollte, mit Bildung, Wirtschaft und Verwaltung kollaborativ und kreativ für unser aller Zukunft einzutreten. Und der Weg, dieses systematisch zu realisieren, beginnt beim ersten Kontakt junger Menschen mit unserem Bildungssystem. –FF–