Digitalisierung – sie ist überall. Man könnte auch sagen, sie „lauert“ überall. Und das ist gar nicht mal von so weit hergeholt. Denn viele Menschen haben beim Thema Digitalisierung ein ungutes Bauchgefühl. Wen wundert es, denn schon lange gab es kein Thema mehr, welches so diffus daherkam. Was ist Digitalisierung? Zehn Leute gefragt, elf verschiedene Antworten. Digitalisierung ist zum Buzzword geworden, bei dem jeder eine andere Story erzählen kann….
Die einen sprechen dabei vom Heiligen Gral unserer Tage, der alles besser macht. Künstliche Intelligenz, neuronale Netze, die Cloud, Automatisierung und Optimierung, wohin das Auge reicht. Megamärkte und Megatrends. Teilweise reicht das Wörtchen „mega“ schon gar nicht mehr aus. Hochtechnologie hat offenbar in vielen Bereichen durchaus das Zeug, zur Religion zu werden.

Dann gibt es andere, die eine ganz andere Wahrnehmung vertreten. Sie sehen die große Bedrohung unserer Arbeitsplätze. Sie sehen eine gewaltige Kluft zwischen denen, die Technologie verstehen und Schritt halten können und jenen, denen einfach alles zu schnell geht. Sie postulieren den Raub von Privatsphäre und Selbstbestimmung. Sie berichten von den Absichten der Großen am Markt, den Endverbraucher bis aufs Letzte auszunehmen. Im Extremfall sehen sie sogar Roboter in der Zukunft über die Menschheit herfallen. Eine wesentlich düsterere Perspektive, als sie noch George Orwell in seinem Roman „1984“ gezeichnet hatte. (Diesen sollte man heute zur Pflichtlektüre erheben, doch dazu in einem anderen Beitrag mehr.)
Häufig hat man den Eindruck, die Welt teile sich in diese zwei Gruppen. Die extreme Pro-Digital-Gruppe und die extreme Contra-Digital-Gruppe. Wenngleich man beide Perspektiven verstehen kann, so fällt auf, dass bei genauerem Nachfragen gar keine so stichhaltigen Begründungen mehr kommen. Der eingangs erwähnte diffuse Charakterzug der Digitalisierung wird allzu oft deutlich. Dem liegt ein Wahrnehmungsfehler zugrunde, der bereits in dem Wort „Digitalisierung“ versteckt ist.
„Digitalisierung“ bezeichnet einen Vorgang. Dieser ist zwar überall im Gange, jedoch ist er nicht das, was uns tatsächlich so sehr beeinflusst. Ein wesentlich besserer Begriff für unsere Herausforderung ist „Digitalität“. Denn was auch immer uns noch bevorsteht, wir wissen es nicht. Was aber bereits jetzt gegenwärtig ist, das wissen wir. Und das spüren wir. Wir sind bereits digital, unser gesamter Lebensalltag ist von digitaler Technologie durchzogen. Das hat massive Auswirkungen.
Wir sind konfrontiert mit allerhand Zwängen. Das gesamte Leben verlagert sich in die digitale Welt. Ohne Smartphone kommt man fast nicht mehr aus. Zigfach sind Daten einzugeben, Apps downzuloaden, Bestätigungen zu versenden. Jedes Unternehmen braucht seine eigene digitale Lösung, weil es sonst ja nicht sicher ist. Fast jeder Mensch in Deutschland besitzt inzwischen 50-100 Zugänge mit Passwörtern und genauso viele verschiedene Apps. Der Zeitaufwand, den wir inzwischen betreiben, um einfachste Dinge durchzuführen, ist immens. Der Stress hat zugenommen. Da verwundert ein ungutes Bauchgefühl überhaupt nicht mehr.

Die Unternehmens- und Arbeitswelt ist getrieben. Eine „Me-Too-Mode“ greift um sich. Jeder technische Schnickschnack, den ein anderes Unternehmen bereits hat, wird im eigenen Unternehmen auch gebraucht. „Wir brauchen unbedingt auch eine App!“ Warum? Keine Ahnung. Hat man halt heutzutage. Das erzeugt Stress. Das erzeugt Unternehmen, in denen Menschen arbeiten, aber nicht wissen, wofür. Der „flexible Mensch“, wie ihn bereits Richard Sennett 1998 beschrieben hat, ist das Ergebnis dieser Digitalität. Es scheint nur noch darum zu gehen – auch die Wissenschaft in Teilen nicht ausgenommen – Trends zu erkennen und ihnen zu folgen. Die Warum-Frage wird dabei oftmals gar nicht mehr gestellt.
Selbst vor der Bildungswelt machen diese Entwicklungen nicht halt. Obwohl man hier stets angehalten ist, das Vorgehen an wissenschaftlichen Erkenntnissen zu begründen, greift ebenfalls eine Orientierungslosigkeit um sich. Gerade die Schulen und Bildungsinstitute, die junge Menschen fit und handlungsfähig für die Zeit nach der Schule machen sollen, hinken der Entwicklung weit hinterher. Ebenfalls getrieben und unter Digitaldruck stehend wird vielerorts eine Art Brechstangen-Digitalisierung unternommen. Auf die Maßgabe hin, den digitalen Anschluss sicherzustellen, werden enorme Mittel zur Verfügung gestellt. Daraufhin tauchen Institute, Studiengänge, Onlineportale und Plattformen mit jeder Menge Kursen zu digitalen Inhalten auf. Immer darauf bedacht, die neueste technologische Entwicklung mit drin zu haben. Das sieht dann digital aus. Thema abgehakt.
Wirklich, Thema abgehakt? Mitnichten. Bei genauerem Hinsehen stellen wir fest, dass sich damit einfach das dupliziert, was in Amerika vor einigen Jahren seinen Anfang genommen hat. Die massiven Onlinekursangebote versprechen, viele Menschen zu erreichen. Das tun sie zwar, doch produzieren sie im Ergebnis nur eine noch größere Zahl digitaler Auswendiglerner und Multiple-Choice-Ankreuzer. Von dem, was ein Bildungssystem in seiner Grundidee leisten sollte, ist kaum noch etwas übrig. Die Entwicklung der Persönlichkeit, die Schulung des forschenden Lernens, das Schüren von Neugierde, das Erleben von Inspiration – das sind Konzepte, die einst den Menschen im Fokus hatten. Diese brachten aufgeklärte, mündige und selbstständig denkende Individuen hervor. Worin besteht eigentlich noch die Aufgabe des Lehrers? Nach Plagiaten zu suchen? Keine einfache Frage vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen.
Unternehmen beschweren sich laufend, dass die Absolventen der Hochschulen nicht das mitbringen, was sie eigentlich bräuchten. Doch was ist das? Sie beherrschen doch alle betriebswirtschaftlichen Vokabeln, können coden, produzieren KPI-Tabellen, haben tolle Abschlüsse und verkaufen sich im Vorstellungsgespräch erstklassig. Was also braucht ein Unternehmen? Um es an dieser Stelle kurz zu machen: es sind Skills. Sowohl ganz basal menschliche, als auch übergreifendes Skills. Oder Fertigkeiten, um einen deutschen Begriff zu verwenden.

Konkret geht es um die Dinge, die sukzessive und unbemerkt aus unseren Lebensalltag immer mehr verschwunden sind. Unsere digitale Kommunikation beispielsweise hebelt unsere Fähigkeit zur Empathie aus. Unsere starke (digitale) Konsumsorientierung verleitet uns immer mehr, Ersatzerlebnisse zu haben. In Videos sehen wir die Konsequenzen des Handelns anderer Menschen beispielsweise. In digitalen Simulationen können wir uns austoben und virtuelle Coups oder Katastrophen anrichten. Nur ohne Konsequenzen.
Genau hier liegt das Problem. Empathielose Handlungsumgebungen und Ersatzerlebnisse ohne Konsequenzen in der Wirklichkeit transportieren nicht die Erfahrungen, die wir für unsere menschliche Entwicklung brauchen. Nur wer empathiebasierte soziale Dynamik wirklich erlebt und die Verantwortung für sein Handeln übernimmt, hat auch die prägende Erfahrung. Experience ist ein inzwischen weitverbreiteter Begriff, der das beschreibt. Aus solchen Erfahrungen heraus können Bereitschaften entstehen, Ideen zu entwickeln. Verantwortung zu übernehmen und sie umzusetzen. Führungsqualitäten zu entwickeln und diese einzusetzen. Leadership ist ein starker, doch leider auch inflationär verwendeter Begriff, der aber sehr präzise einen dieser Skills bezeichnet. Ein leistungsfähiges Bildungssystem misst diesen Skills mindestens gleichwertige Bedeutung bei, wie den technischen Inhalten. Wenn nicht mehr, denn viele Dinge, wie etwa Fakten, müssen wir heute tatsächlich nicht mehr wissen. Sie sind digital überall verfügbar. Fertigkeiten jedoch, wie Leadership und lebendige Empathie, müssen zwingend eingeübt und erprobt sein. Anders können Sie keine Anwendung finden. Welcher Entwicklungsraum wäre daher besser geeignet, als die gesamte Zeit der schulischen und hochschulischen Ausbildung?
Dieser initiale Beitrag des Projektes „EE-DU“ (sprich „ihdu“) beabsichtigt nicht, umfassend und vollständig zu sein. Das wäre naiv im Rahmen von 1.000 Worten. Er soll lediglich einen ersten Nagel ins Brett schlagen und gleichzeitig in etwa den Horizont aufzeigen, an dem wir uns im Rahmen des Projektes bewegen wollen. Es gibt viele Ideen in unserer Gesellschaft. Gerade die deutsche Bildungslandschaft hat mit dem Humboldtschen Bildungsideal einen Geist gestiftet und gleichzeitig viele gute Ideen auch schon umgesetzt. Weiterhin schlummern viele Ideen in der deutschen Bildungslandschaft, die auch in sehr engem Rahmen ihre Bewährung in der Praxis gefunden haben. Unser Anliegen ist daher ganz simpel: wir wollen das, was bereits da ist abholen. Alle bekannten, die noch schlummernden und unsere eigenen Ansätze bringen wir auf einer gemeinsamen Bühne in einen lebendigen Diskurs. Daraus entwickeln wir neue Wege für die Bildung, deren direkte Umsetzung wir fördern.
Um sicherzugehen, dass unser Ansatz nicht, wie so viele dieser Tage, ebenfalls „zu kurz springt“, richten wir gleich zu Beginn den Fokus auf den Menschen. Wir beginnen unsere Reise daher mit der wesentlichen Säule eines funktionierenden Bildungskonzeptes: unser Menschenbild. Wir laden alle ein, diesen Weg mit uns gemeinsam zu gehen. Für unsere Zukunft als Menschen.